Wenn man den Ergebnissen des Internets trauen kann, so Hoffmanns Aussage, dann ist Sex „die wichtigste Sache der Welt. Wichtiger als Liebe, sogar wichtiger als Gott“27 (Senger & Hoffmann, 2012, S. 106).
Im Internet ergaben die Suchergebnisse für `Gott` 211.000.000, für `Liebe` 422.000.000 und das Wort `Sex` lieferte 3.660.000.000 Google-Ergebnisse.
Sexualität gehört zu den wichtigsten Themen in unserem Leben. Einerseits ist Sexualität ein natürlicher Trieb und ist mit unseren Urinstinkten verbunden; andererseits, so Victor Chu, sind unsere wichtigsten Beziehungen – Partnerschaft, Ehe und Familie - auf Sexualität und Fortpflanzung begründet (vgl. Chu, 2014, S. 150).
In ihrer sublimierten Form ist Sexualität „für die großartigsten kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen des Menschen“ (Senger & Hoffmann, 2012, S. 119) verantwortlich.
Die World Association for Sexual Helth definiert Sexualität als „… an integral part of the personality of every human being. Its full development depends upon the satisfaction of basic human needs such as the desire for contact, intimacy, emotional expression, pleasure, ternderness, and love“.
In der Declaration of Sexual Rights wird betont, dass erfüllte Sexualität die Grundlage ist „für individuelles, zwischenmenschliches und gesellschaftliches Wohlbefinden“.
Die Österreichische Gesellschaft für Sexualwissenschaften definiert Sexualität „… als eine wichtige Form menschlicher Kommunikation, als Körper- und Beziehungssprache, als lebendiges Zeichen und lebendige Ausdrucksform menschlicher Intimität und Liebesfähigkeit“ (ÖGS, 2020).
Maß und Bauer betonen, dass sexuelle Probleme als Symptome bei Beziehungsproblemen auftreten, in denen sich die gesellschaftlichen Normen und kulturellen Zustände widerspiegeln. Deswegen können sexuelle Störungen nicht separat vom gesellschaftlichen Kontext betrachtet und analysiert werden (vgl. Maß & Bauer, 2016, S. 13).
Jeder Mensch wird mit einem gewissen physiologischen sexuellen Potenzial geboren, und im Laufe der individuellen Lebensentwicklung bildet sich später die Sexualität. Sie beinhaltet biologische, psychophysiologische, mentale und emotionale Handlungen und Erfahrungen, die nicht nur mit der Befriedigung des sexuellen Verlangens verbunden sind, sondern auch auf einen als `Wohlbefinden` bezeichneten sozialpsychologischen Zustand abzielt und die Lebensqualität verbessert. Im Allgemeinen basiert die menschliche Sexualität auf dem integrierten Zusammenspiel von biologischen, physiologischen, mentalen, psychologischen, soziokulturellen, politischen und sogar spirituellen, religiösen Faktoren. Sie ist die treibende Kraft für die Annäherung und Vereinigung von Menschen und eine der Hauptkomponenten des Familienlebens. Wie auch andere Aspekte des menschlichen Verhaltens ist Sexualität sowohl biologischer als auch sozialer Natur – einige Merkmale der Sexualität sind genetisch und physiologisch bedingt, die anderen entstehen erst im Prozess der Sozialisierung. In der kulturellen Entwicklung haben verschiedene Kulturen verschiedene Vorstellungen und Normen des sexuellen Verhaltens entwickelt. Sexualität ändert sich im Laufe der Menschheitsgeschichte von Kultur zu Kultur, von Land zu Land kontinuierlich. Das menschliche Sexualleben „folgt nicht den Gesetzen der Physiologie. Es verändert sich von Epoche zu Epoche, in einigen Bereichen sehr langsam, in anderen rasant“ (vgl. Sigusch, 2016, S. 243).
Zbigniew Lew-Starowicz, polnischer Psychiater und Sexualforscher, ist der Auffassung, dass die Kultur im Erziehungsprozess durch bewusste Nachahmung und unbewusstes Lernen erworben wird. Dieser Prozess ist äußerst sensibel, umfasst alle Aspekte des Lebens, beeinflusst das Verhalten, die Einstellungen und Überzeugungen und hat eine tiefe Wurzel. In Bezug auf Sexualität formt die Kultur unser Wertesystem und Sexualverhalten sowie unsere Kommunikation in den Beziehungen. Sie reguliert die sexuellen Triebe und sexuelle Natur des Menschen. Lew-Starowicz unterscheidet folgende kulturelle Typen der Sexualität, die sich in der Art des zulässigen sexuellen Verhaltens unterscheiden:
Der Apollo-Typ - charakteristisch für die alte Gesellschaft und in der Neuzeit - für die Ureinwohner einiger Inseln des Pazifischen Ozeans29. In dieser Kultur wird Sexualität gleichgestellt mit anderen menschlichen Bedürfnissen, und es gibt kein entwickeltes System von Tabus und Einschränkungen, die mit sexuellen Beziehungen verbunden sind.
Der liberale Typ - hier werden verschiedene Sexualitäten toleriert, es gibt keinen Zwang gegenüber bestimmten sexuellen Verhaltensnormen. Die Sexualität hat große Bedeutung als wichtiger Bestandteil sozialer Beziehungen. Gleichzeitig wird Sexualität nicht unbedingt als ein natürlicher, biologischer Bestandteil des Lebens des Menschen betrachtet.
Die Liebhaberkulturen - die durch die Verbreitung `doppelter Moral` gekennzeichnet sind, die offene Sexualität verurteilen, sexuelle Freiheit `hinter verschlossenen Türen´ aber zulassen, einschließlich Ehebruch (für beide Partner oder nur für den Ehemann). Die Ehe wird als ein Vertrag verstanden, und die Eheleute haben außerehelichen sexuellen Kontakte.
Kulturen der Armut - die Vorstellung, dass das Sexualverhalten abhängig von finanziellen Umständen und Lebensstandard ist, wurde in Forschungen von Lee Rainwater bestätigt. Diese Kulturen entstehen im Arbeiter- und bäuerlichen Umfeld sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern mit spürbarem Einfluss patriarchaler Traditionen. Diese Kultur ist gekennzeichnet durch ein geringes Bewusstsein für bestimmte Themen in Bezug auf Sexualität, das Fehlen der Sexualerziehung, die dominante Rolle der Männer und die untergeordnete Rolle der Frauen sowie Gewalt im Sexual- und Familienleben.
Mystische Kulturen - wie Tantra, Tao - Sexualität wird als eine Form der Vereinigung mit Göttlichem, Transzendenz oder Energielenkung verstanden.
Orgiastische Kulturen - berücksichtigen alle Formen der Sexualität, einschließlich Homosexualität, sexuelle Deviationen, Gruppensex usw. Das Ziel ist es, Sexualität hedonistisch auszuleben. Bronislaw Malinowsky, Sozialanthropologe, beschrieb in seinem Werk „Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien“ (1928) das Leben und die Sexualität von Trobriander. Sexualität wurde nicht verdrängt, sondern gehörte zum Alltag. Für Kinder und Jugendliche standen die Häuser zur Verfügung, wo sie unbehindert ihre Sexualität erkunden durften und bis zur Heirat frei entwickeln konnten. Ein Beispiel dafür ist das antike Rom, die ersten Jahrhunderte des Christentums (Adamiten), die Libertiner-Bewegung, Hippie-Gemeinden oder einige städtische Subkulturen in moderner Zeit.
Repressive Kulturen - existieren als Gegenteil zu orgiastischen Kulturen, die durch eine fast vollständige Unterdrückung der Sexualität gekennzeichnet sind: strenge Verbote außerehelicher und vorehelicher sexueller Beziehungen, das Fehlen der sexuellen Aufklärung und Einschränkung der Rolle sexueller Beziehungen in der Ehe. Ein Beispiel dafür ist die irische Gemeinde Inis Beag, die vom amerikanischen Anthropologen John Messinger erforscht wurde. In dieser Gemeinde ist Sex nie ein Gegenstand des Gespräches, sexuelle Aufklärung, Nacktsein, vorehelicher Sex sind verboten. Heiratsalter beträgt bei den Männern 36 Jahre, bei den Frauen 25, und da Nacktsein verboten ist, wird Sexualität immer in Unterwäsche praktiziert. Die Gemeindemitglieder haben große Angst vor Beschämungen und Bestrafungen.
Die puritanische Kultur - ist gekennzeichnet durch Zensurverbote zu allen Themen im Zusammenhang mit Sexualität, Unterdrückung sexueller Erfahrungen bei Jugendlichen, die strafrechtliche Verfolgung für homosexuelle Beziehungen und Deviationen. Im 20. Jahrhundert wurde die puritanische Kultur durch die sexuelle Revolution und Entwicklung der Wissenschaften, auch Sexualwissenschaft, geschwächt, dennoch ist ihr Einfluss immer noch in einigen Gesellschaftsschichten stark verbreitet.
Bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts war die gesellschaftliche Einstellung zur Sexualität von der christlichen Moral und alten Traditionen geprägt: Sex und Sexualität waren ein Tabuthema, Empfängnisverhütung war verboten (erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die `Rhythmus-Methode` durch Papst Pius XII anerkannt), und damit verbunden Kriminalität bei Abtreibungen und die Gefahr für die Gesundheit der Frauen; Homosexualität wurde in der Gesellschaft abgelehnt und rechtlich verfolgt. Als Norm galt ausschließlich Sexualität in der Ehe. Es herrschte eine Doppelmoral: für die unverheirateten Männer galt Sex als natürlich, zumindest verzeihlich, für Frauen nicht.
Obwohl sich die Menschheit seit Jahrtausenden dank Sex fortpflanzt und sich entwickelt, ist die Sexualwissenschaft eine verhältnismäßig junge Wissenschaft, die gerade einmal 100 Jahre alt ist. Seit ihrer Entstehung liefert die Sexologie die Legitimation, Sexualität in seriöser und moralisch unverdächtiger Art und Weise zu betrachten: Sex und Sexualität werden heutzutage nicht mehr als sündhaft gesehen, Homosexualität gehört nicht mehr zur Pathologie und wird nicht mehr bestraft, Kinder und Jugendliche werden sexuell aufgeklärt, Frauen haben ein Recht auf ihre sexuelle Selbstbestimmung, und es gibt eine Vielzahl von Bildungs- und Beratungsangeboten für verschiedene Formen menschlicher Sexualität.
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